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Die Geister von Goni: Ein Schatten Zwischen den Steinen

Die Geister von Goni: Ein Schatten Zwischen den Steinen

Der Winter 1956 legte sich wie ein eisiger Schatten über Sardinien, ein eiskalter Griff, der die Insel in einen noch nie dagewesenen Würgegriff nahm. Mitte Januar heulte der Wind zwischen den Gipfeln des Gennargentu und verstreute Schneeflocken wie Asche über das Campeda-Plateau. Das Meer, ein wütendes Monster, peitschte die aus Genua und Civitavecchia ankommenden Dampfer und zwang sie, Schutz entlang der Küste zu suchen. An Bord des Motorschiffs Sicilia der Tirrenia kämpften Louis Bonfant und Marie Denard, zwei junge französische Archäologen, gegen die Seekrankheit, ihre Eingeweide verdreht, während sie von den alten Steinen träumten, die sie erwarteten. Absolventen der Panthéon-Sorbonne, hatten sie Paris mit einem Stipendium und einer Obsession verlassen: die megalithischen Ausrichtungen von Goni, Pranu Mutteddu, ein Ort, der vergrabene Geheimnisse flüsterte, ähnlich denen von Carnac in der Bretagne. Koordinaten: 39° 34ʹ 40.60ʺ N 09° 17ʹ 12.10ʺ E. Ein Punkt auf der Karte, aber für sie ein Portal zum Unbekannten.

Goni: Das alte Herz Sardiniens

Goni war ein kleines Dorf, das sich an die Hügel des Gerrei klammerte, ein Ort, an dem die Zeit stehen geblieben zu sein schien, gefangen zwischen Nuraghen, Menhiren und Domus de Janas, den „Häusern der Feen“. Diese kleinen, in den Fels gehauenen Höhlen, heilig für die alten Sarden, waren keine einfachen Gräber: Es waren Türen, vielleicht zu einer anderen Welt, oder so flüsterten die alten Frauen des Dorfes mit leisen Stimmen und wachsamen Augen. Louis und Marie, mit ihren Karten und Notizbüchern voller Anmerkungen, waren gekommen, um zu studieren, aber sie wussten nicht, dass diese Steine sie ihrerseits studieren würden, in ihre Seelen eindringen wie ein Messer ins Fleisch. Pranu Mutteddu war nicht nur eine archäologische Stätte: Es war ein lebendiger Ort, der Energie atmete, der diejenigen rief, die es wagten, sich zu nähern.

Luisa Sannas Empfang

Empfangen wurden sie von Luisa Sanna Deiana, einer zierlichen Frau mit pechschwarzem Haar und einer Haut, die so hell war, dass sie von innen beleuchtet zu sein schien. Mit achtundsechzig Jahren sah sie ihr Alter nicht aus: Es war etwas an ihr, eine Energie, die die Luft knistern ließ, als würde die Zeit an ihr vorbeigleiten, ohne sie zu berühren. Ihr Haus in der Hauptstraße von Goni war ein warmer Zufluchtsort gegen die beißende Kälte, mit einem brüllenden Kamin und einem Bücherregal, das eine ganze Wand einnahm, die Buchrücken wie Wächter eines alten Wissens. Als ehemalige Lehrerin mit einer Leidenschaft für Frankreich empfing Luisa sie mit einem Lächeln, das Geheimnisse zu kennen schien, die sie nicht kannten. Marie, die dank des Unterrichts einer Bologneser Dozentin fließend Italienisch sprach, hatte sich mit ihr brieflich ausgetauscht und sie sofort sympathisch, fast als Komplizin empfunden.

Die Steine von Pranu Mutteddu

Vor einem Teller hausgemachter Pasta und lokalen Käsesorten sprachen sie über Pranu Mutteddu, über seine Tausende von Jahren zuvor errichteten Steine, vielleicht um unterirdisch verborgene Energielinien zu markieren. Luisa hörte zu, ihre Fragen scharf wie Klingen, und enthüllte ein Wissen, das über bloße Neugier hinausging. Sie erzählte von unerklärlichen Phänomenen: Während der Tag- und Nachtgleichen und der Sonnenwenden schienen die Steine zu vibrieren, eine Energie auszuströmen, die diejenigen umhüllte, die sich näherten, eine Ekstase, die heilen oder zerstören konnte. Aber es gab noch mehr. Goni hütete dunkle Geschichten, Legenden von Janas, Feen oder Hexen, Geistern, die angeblich jeden in Stein verwandeln konnten, der es wagte, ihre Schätze zu stehlen. Und dann war da noch Maria Elena Artizzu, eine Figur, die wie ein Schatten über dem Dorf schwebte.

Das Geheimnis von Maria Elena und Anna Dejanas

Maria Elena lebte in einem Haus neben dem von Luisa, nur durch eine niedrige Mauer getrennt. Sie war eine schwer fassbare Gestalt, ihr Gesicht von einem schwarzen, bestickten Kopftuch verdeckt, Falten, die ihren Ausdruck wie ein stürmischer Himmel veränderten. Niemand kannte ihr Alter, niemand betrat ihr Haus, ein Ort, der Geheimnis zu atmen schien. Im Dorf nannten sie sie Hexe, eine Heilerin, die Kräuter und alte Litaneien kannte, aber die Kirche mied, was Misstrauen und Gerüchte hervorrief. Es hieß, sie verbringe Stunden zwischen den Menhiren, verschwinde tagelang, und dass ihr Haus in ihrer Abwesenheit von Rascheln und unnatürlichen Stimmen widerhallte. Dann, eines Januartages, stellte sich eine strenge Frau als ihre Verwandte, Anna Dejanas, vor. Schwarz gekleidet, mit einem blassen Gesicht und einer Stimme, die die Luft zerschnitt, sagte sie, Maria Elena habe sich aus gesundheitlichen Gründen auf die Halbinsel zurückgezogen. Aber Anna war nicht weniger rätselhaft: Ihre nächtlichen Spaziergänge nach Pranu Mutteddu nährten Gerüchte, sie sei eine coga, eine Hexe, die Stürme heraufbeschwören könne. Ihr Name, leise geflüstert, rief Angst hervor, als ob das Aussprechen böse Geister herbeirufen könnte.

Die Begegnung mit dem Unbekannten

Louis und Marie, bewaffnet mit Kompass, Maßband und einem Kupferpendel, machten sich an einem Januarmorgen auf den Weg nach Pranu Mutteddu, die Kälte biss in die Knochen und tiefe Wolken versprachen Regen. Die Menhire ragten wie schweigende Giganten auf, das Läuten der Schafsglocken in der Ferne wie ein Herzschlag der Erde. Aber etwas stimmte nicht. Das Pendel in Louis‘ Händen begann sich zu drehen, dann stoppte es, angezogen von einer unsichtbaren Kraft, und überhitzte sich, bis es ihm die Finger verbrannte. Marie, die eine Hand auf eine Stele legte, spürte ein Kribbeln in ihrem Körper, dann verschluckte sie die Dunkelheit. Sie fiel in Ohnmacht. Louis fing sie gerade noch rechtzeitig auf, als sich ein dunkler Schatten im Nebel materialisierte: eine verhüllte, gesichtslose Gestalt mit Augen, rot wie Glut. Eine weibliche Stimme, tief und zischend, umhüllte sie und sprach eine unbekannte Sprache. Der Terror lähmte sie, bis ein Hirte sie fand, liegend zwischen den Menhiren, lebend, aber erschüttert, und sie zurück zu Luisa brachte.

Die Geschichte von Enrica

Vor dem Kamin sitzend, mit Tassen dampfenden Tees, erzählten sie, was geschehen war. Luisa hörte zu und erzählte dann eine blutrünstige Geschichte. Jahre zuvor war eine junge Frau aus dem Dorf, Enrica, Maria Elena Artizzus Ururgroßmutter, ermordet worden. Eine erfahrene Heilerin, die in Pranu Mutteddu Kräuter sammelte, wo die Energie der Erde ihre Heilmittel mächtig machte. Doch ein Mann, geblendet vom Hass auf einen Nachbarn, bat sie um einen Fluch. Enrica weigerte sich, dem Guten treu. Er erstach sie, zerrte ihren Körper bei Vollmond zwischen die Menhire und begrub sie in einem versteckten Grab. Er bemerkte die drei schwarzen Gestalten nicht, die ihn beobachteten. Sie packten ihn, ihre knochigen Hände wie Krallen, und töteten ihn, wobei sie seinen Körper verstümmelt zurückließen, was einem wilden Tier zugeschrieben wurde. Aber Enrica, ihr Geist, blieb gefangen und wanderte zwischen den Steinen.

Das Ritual im verlassenen Haus

In dieser Nacht weckte ein rhythmisches Geräusch Louis und Marie. Etwas schlug gegen die Fensterläden. Louis öffnete das Fenster: nichts, nur Schnee. Doch im Garten starrte sie eine weibliche Gestalt mit weißem Gesicht und schwarzen Augen an und forderte sie auf, ihr zu folgen. Sie ging durch eine verriegelte Tür des Hauses von Maria Elena. Die beiden, von einer unerklärlichen Kraft angetrieben, folgten ihr und fanden die Tür angelehnt. Im Inneren beleuchtete ein milchiger Schein ein ordentliches Haus, als ob die Zeit stillgestanden hätte, mit Schalen voller Kräuter auf dem Tisch und einem alten Bücherregal. Eine leicht angelehnte kleine Tür strahlte ein flackerndes Licht aus. Sie traten ein und fanden die Gestalt in einer Ecke auf einem Stuhl neben einem schmiedeeisernen Bett sitzend. Drei schwarze Silhouetten erschienen hinter ihnen und sangen eine alte Litanei.

Luisas Stimme

Luisa Sanna erschien in der Tür, die Kapuze heruntergezogen, ihre Stimme hallte wie ferner Donner. „Es ist kein Zufall, dass ihr hier seid“, sagte sie. Sie sprach von unterirdischen Energien, von alten Erbauern, von einer Gabe, die in Maries Blut floss, einer Verbindung zu den Janas, den magischen Frauen der Vergangenheit. Enrica, erklärte sie, war ein Geist, der auf Befreiung wartete. Sie leitete Marie durch ein Ritual: ein mit Kreide gezeichneter Kreis, die drei schwarzen Gestalten bildeten eine Kette, Louis verbrannte Eisenkraut. Marie spürte, wie die Erde vibrierte, sah Bilder von tanzenden Frauen zwischen den Menhiren, dann Enrica, tot, zum Himmel aufsteigen. Ihr Geist löste sich in einer duftenden Umarmung von Kräutern auf, während die drei Gestalten verschwanden. Das Haus veränderte sich: Stuhl und Bett waren wieder kahl. In dieser Nacht zerriss ein Donnerschlag Goni: das Haus von Enricas Mörder stürzte ein, vielleicht wegen des Schnees, oder vielleicht wegen eines erfüllten Fluches.

Das Erbe der Verveine

Jahre später kehrten Louis und Marie mit ihrer Tochter Verveine nach Goni zurück, die Luisa in die Alte Kunst einführte. Zwischen den Menhiren von Pranu Mutteddu, wo eine Eisenkrautpflanze wächst, meditierten sie, verbunden durch einen unsichtbaren Faden, der Vergangenheit und Gegenwart, Archäologie und Magie verband, an einem Ort, an dem die Steine immer noch flüstern.